J. P.: Sie haben kürzlich Seymour Hersh interviewt – wie kamen Sie dazu und worauf sind Sie gestoßen?

F. S.: Ich war gerade dabei, einen Artikel über die Aussagen des ehemaligen Israelischen Premiers Natali Bennett über die Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im März 2022 zu schreiben – ein sehr interessantes Thema, denn Bennett sagt, dass es damals gute Chancen auf einen Waffenstillstand gab, die allerdings vom Westen blockiert worden seien. Just an dem Tag veröffentlichte Hersh seinen Artikel, der – aufbauend auf einer geheimen Quelle – behauptet, die US-Regierung unter Joe Biden habe die Zerstörung der Nord-Stream Pipelines in Auftrag gegeben. Inhaltlich überraschte mich die Story nicht, immerhin hatte Biden genau das am 7. Februar 2022 in einer Pressekonferenz mit Olaf Scholz unmissverständlich angekündigt. Die Detailfülle von Hershs Bericht war aber bemerkenswert, und so nahm ich mit ihm Kontakt auf. Ich war der erste europäische Journalist, dem er ein Interview zu dem Thema gab, die Berliner Zeitung brachte es umgehend. Sonst traute sich kaum eine deutsche Zeitung, dieses heiße Eisen anzufassen. Das Interview wurde dann rund um den Globus veröffentlicht, in den USA, Argentinien, Spanien, Italien, Indien, Indonesien, der Türkei, China usw. Später veröffentlichte dann die New York Times und Die Zeit eine Gegenstory, die davon erzählt, dass der Anschlag von sechs Leuten in einem Segelboot durchgeführt worden sei – eine angesichts der komplexen Logistik dieser Aktion ziemlich unglaubwürdige Geschichte. Ich halte es, wie auch Hersh, für wahrscheinlich, dass sie von der US-Regierung in Umlauf gebracht wurde, um von den wahren Tätern abzulenken.

 

J. P.: In Ihrem Buch „Das Ende der Megamaschine“ schreiben Sie von der Expansion Europas und dem Anspruch, dass der Westen Träger eines menschheitsgeschichtlichen Fortschritts ist. Im Zentrum dieser Erzählung steht die Vorstellung einer radikalen Überlegenheit verbunden mit dem Auftrag, die gesamte Welt zu konvertieren. ….
Wie drückt sich in der aktuellen Situation dieser Anspruch aus?

F. S.: Einige westliche Regierungen, darunter die deutsche und die der USA, weigern sich noch immer zu begreifen, dass die 500jährige Epoche der westlichen Dominanz vorbei ist. Wir sind mit dem Aufstieg Chinas und anderer großer Schwellenländer längst in einer multipolaren Welt angekommen, das zeigt sich etwa darin, dass nur etwa drei Dutzend Länder dem westlichen Aufruf zu Sanktionen gegen Russland nachgekommen sind. Doch die US-Regierung scheint immer noch zu glauben, dass sie ihre Vormachtstellung behaupten kann. Diese Illusion ist gefährlich, denn sie könnte die USA dazu verführen, neben dem Stellvertreterkrieg, der derzeit in der Ukraine tobt, auch noch einen Krieg mit China zu beginnen, was vollkommener Wahnsinn wäre. Leider fehlt es bei europäischen Regierungen, insbesondere bei der deutschen, an einer eigenständigen Außenpolitik und diplomatischen Initiativen. Die deutsche Außenministerin verhält sich so, als sei sie eine Außenstelle des State Department. Dabei wäre eine Emanzipation vom großen Bruder in Washington ganz entscheidend, um die Weichen für eine neue Friedensordnung zu stellen. Das ist nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine zwar deutlich schwerer geworden, aber nicht unmöglich. Die Alternative ist eine neue Blockkonfrontation, die die Erde und ihre Bewohner weiter an den Abgrund führt. 

 

J. P.: Sie sagen auch, das Tückische an allumfassenden Systemen bestehe darin, dass sich nicht einfach einzelne Teile herausnehmen und verändern lassen, sondern sich im Prinzip alles zugleich ändern muss, weil alles mit allem zusammenhängt. Lohnt sich Engagement dennoch? Warum?

F. S.: Komplexe Gesellschaftssysteme wie das kapitalistische Weltsystem lassen sich nicht am Reißbrett verändern, die Veränderung kommt durch eine Unzahl von einzelnen Bewegungen und Kämpfen. Das Ergebnis ist nur bedingt planbar, weil so viele Kräfte dabei mitspielen. Das gegenwärtige System ist in eine chaotische Phase eingetreten, die Ökonomie wird immer instabiler, wir stolpern von Krise zu Krise, die Polarisierung nimmt zu und die ökologischen Grenzen des Wachstums, ohne das dieses System nicht existieren kann, sind erreicht. Wir befinden uns in einer Übergangsphase zu etwas Neuem, aber wir können nicht wissen, wie es aussehen wird. Wenn komplexe Systeme chaotisch werden, können oft schon kleine Bewegungen einen großen Unterschied machen. In der Chaostheorie nennt man das den Schmetterlingseffekt. Im Prinzip kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Florida einen Tropensturm in China auslösen. Wir können niemals wissen, welche unserer Handlungen langfristig welche Wirkung haben wird, aber wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit positiver Wendungen zunimmt, je mehr Menschen sich engagieren. 


J. P.: Sie bezeichnen Menschen als „Austauschwesen, Durchgangsorte und Transformatoren“, was heißt das? 

F. S.: Versuchen Sie mal, so lange Sie können die Luft anzuhalten. Irgendwann wird ihr Körper Sie zwingen, auszuatmen und wieder einzuatmen. Die Stoffe in unserem Körper werden permanent mit der Umgebung ausgetauscht. Was eben noch ein Apfel war, verbrennen wir im nächsten Moment schon zu Energie, Bewegung, Gedanken und Gefühlen. Und das CO2, das wir ausatmen, verarbeitet der Baum wieder zu Äpfeln. Auch was wir tun, ist Teil eines permanenten Austausches. Wenn ich am Computer einen Text schreibe, benutze ich Dinge, die Tausende von Menschen anderswo auf der Welt geschaffen haben. Ich kenne diese Menschen nicht und bin doch mit ihnen verbunden. Ohne diese Verbindungen könnten wir nicht existieren. Doch das Geld macht diese Verbundenheit unsichtbar. Ich kaufe im Laden einen Rechner und glaube, unabhängig zu sein, weil ich mit meinem Geld meinen Computer gekauft habe. Dabei bin ich in einen extrem komplexen Austauschprozess mit der halben Welt eingetreten. 

 

J. P.: Welche Rolle spielt Konkurrenz dabei, welche Kooperation? 

F. S.: Wir wissen heute, dass die Evolution nicht nur auf Konkurrenz beruht, auf einem „Überleben des Angepasstesten“, sondern vor allem auf Kooperation. Kooperierende Zellen haben die ersten mehrzelligen Lebewesen geschaffen, Ökosysteme könnten ohne Kooperation nicht existieren, ebenso wenig menschliche Gesellschaften. Doch unser Wirtschaftssystem zwingt uns in Konkurrenz zueinander: als Jobsuchende, beim Karriereweg, als Belegschaften eines Betriebes und sogar transnational durch die absurde Standortkonkurrenz zwischen Ländern. In der Schule werden wir auf diese Konkurrenz vorbereitet – und auf entfremdetes Arbeiten.

 

J. P.: Wenn die Welt ein großes Netzwerk ist, in dem alles mit allem verbunden ist, wie kann es sein, dass unser beherrschendes Lebensgefühl ein ganz anderes ist?

F. S.: Das Gefühl des Abgetrenntseins, der existentiellen Einsamkeit, hat in der westlichen Welt inzwischen den Charakter einer Epidemie. Lockdowns und andere Maßnahmen haben das noch weiter verstärkt. Die Wurzeln liegen aber viel weiter zurück. Das englische Wort „loneliness“ ist erst mit der Industrialisierung in dieser Bedeutung aufgekommen. Unsere Wirtschaft trennt und isoliert die Menschen, sie spielt sie gegeneinander aus, statt sie zur Kooperation zu ermutigen. Auch zwischen den Menschen und der übrigen Natur ist eine Schranke getreten. Im Kapitalismus ist die Natur zu einer Ware geworden, einem Objekt, das sich beliebig ausbeuten und steuern lässt. Der – vorübergehende – Machtzuwachs, der damit verbunden ist, bedeutet zugleich eine ungeheure Einsamkeit. Die nicht-menschliche Natur begegnet uns nicht mehr auf Augenhöhe.

 

J. P.: Es heißt, was wir nicht träumen, kann nie Realität werden. 
Sind Sie ein Träumer, Fabian Scheidler? Wovon? 

F. S.: Ich träume von einer Welt, in der es nicht in erster Linie darum geht, aus Geld immer mehr Geld zu machen, sondern darum, sinnvolle Beziehungen zu unserer menschlichen und mehr-als-menschlichen Mitwelt aufzubauen. In der Kultur, Künste, Liebe, Freundschaft, Weisheit den Kern der Gesellschaft ausmachen, nicht das Bruttoinlandsprodukt. In der wir angesichts der ökologischen Krise nicht 100 Milliarden zusätzlich fürs Militär ausgeben, sondern unsere Kräfte darauf konzentrieren, auch für kommende Generationen ein lebenswertes Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen.

Interviewführung: Julia Pöhlmann

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